Susanne Kogler, Saskia Jaszoltowski sowie Martina Bratić beim Panel "Posthumanismus und Archive der Geisteswissenschaften"
Die diesjährige Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung fand vom 28.09.-01.10.2022 in Berlin statt und statt unter dem Motto "Nach der Norm: Musikwissenschaft im 21. Jahrhundert". Das Panel zum Thema "Posthumanismus und Archive der Geisteswissenschaften. Positionen - Differenzen - Chancen" wurde vom Institut für Musikwissenschaft Graz organisiert.
Posthumanistische Perspektiven können als Gegenposition zu den traditionellen Geisteswissenschaften verstanden werden, stellen sie doch vor allem die selbst deklarierte Einzigartigkeit des Menschen als ein der Natur und den Tieren überlegenes Wesen in Frage, das Kunst kreiert und eine Kultur hervorbringt, die es zu wissenschaftlichen und historiographischen Zwecken zu archivieren gilt. Das Sammeln, Archivieren und Konservieren von menschlichen Artefakten, Lebensdokumenten und kul-
turellen Zeugnissen sind grundlegende Methoden auch der (nicht nur historischen) Musikwissenschaft, sei es in analoger oder digitaler Form. In posthumanistischen Debatten werden genau diese Methoden kritisch reflektiert, nicht zuletzt, weil sie vor allem die Hegemonie und Macht des traditionell als weiß und männlich definierten Menschen bestätigen und festschreiben.
Autorinnen und Autoren wie Rosi Braidotti oder Cary Wolfe und Stefan Herbrechter zielen darauf ab, diese grundlegenden eurozentrischen und anthropozentrischen Bedingungen der Geisteswissenschaft, wenn nicht zu dekonstruieren, so zumindest zu hinterfragen bzw. den Fokus auf andere Spezies – Lebewesen und künstliche Intelligenzen (KI) – auszuweiten. Dem entsprechen auch aktuelle künstlerische Ansätze. Beispielsweise komponieren KI „wie“ Menschen und erschüttern damit die Vorstellung von der Einzigartigkeit menschlicher Kreativität.
Diese Sichtweisen aufgreifend, möchten wir die methodische Ausrichtung der Musikwissenschaft aus quellenhistorischer, feministischer und musikästhetischer Perspektive diskutieren. Welche neuen Herausforderungen ergeben sich auf Basis posthumanistischer Theorien für die musikwissenschaftliche Praxis, welche innovativen Perspektiven und Synergien können entstehen? Welche Differenzen zur traditionellen Musikforschung erscheinen unüberbrückbar? Sind geisteswissenschaftliche und anthropozentrische Aktivitäten von Archivierung, Musealisierung, Gedenken etc. in Bezug auf Musikgeschichte mit den Positionen des Posthumanen zu vereinbaren? Warum sollten Musik und ihre Geschichte aus posthumanistischer Perspektive überhaupt noch eine Bedeutung haben? Was kann im Lichte posthumanistischer Theorien Gegenstand und Methode der Musikwissenschaft sein? In der Diskussion sollen sowohl posthumanistische Positionen in Hinblick auf ihr Humanismus-Verständnis und Menschenbild jenseits binärer Konstruktionen und simplifizierender Polarisierungen kritisch reflektiert als auch Grundlagen der Quellenforschung und Archivwissenschaft im Licht der mit den neuen Medien verbundenen Herausforderungen hinsichtlich ihrer Zielsetzungen und methodischen Vorgangsweisen auf den Prüfstand gestellt werden.